Session 27 – Die Entropie des Universums

Die Abenddämmerung legte sich wie ein violetter Schleier über Emberwood, und das Red Lion Hotel hüllte sich in ein gemütliches, warmes Licht, das aus den Fenstern nach draußen drang. Im Inneren roch es nach altem Holz, Rauch und dem Duft von frischem Brot, der aus der Küche aufstieg.

Die Darkk Lyres hatten sich an einem Tisch in der Ecke des Salons versammelt. Die Stimmung war ruhig, fast melancholisch. Nach all dem, was sie in Drakkenheim durchlebt hatten, waren die Tage in Emberwood eine willkommene Pause. Doch selbst in der Ruhe fanden sie keinen völligen Frieden.

Funkenflug saß still und rührte in seinem Becher. Sein Blick war abwesend, und die Linien in seinem Gesicht schienen tiefer zu werden, je länger er in die Ferne starrte. Noita und Thamanea beobachteten ihn, ihre Augen voller Fragen, die sie noch nicht ausgesprochen hatten. Schließlich war es Crois, der die Stille brach.

„Funkenflug,“ begann er vorsichtig, „in der Kathedrale, als Theodore Marshall dich ‚Inquisitor‘ nannte… Was meinte er damit?“

Funkenflug hielt inne, als hätte er einen unsichtbaren Dolchstoß verspürt. Die Worte hingen in der Luft, schwer und unausweichlich. Die Dunkelheit in seinen Augen vertiefte sich, und für einen Moment schien es, als hätte er sich wieder in eine andere Zeit, an einen anderen Ort zurückgezogen.

Er atmete tief durch und setzte den Becher ab. „Es ist eine lange Geschichte,“ begann er, seine Stimme leise, wie ein Flüstern des Windes. „Aber ich schätze, es ist an der Zeit, dass ihr die Wahrheit erfahrt.“

Die Flammen im Kamin knisterten, und ihre Schatten tanzten wie geisterhafte Erinnerungen an den Wänden. Funkenflug lehnte sich zurück, und seine Augen wirkten in dem schummrigen Licht fast wie zwei Kohlen, die tief in einem kalten Feuer glühten.

„Ich habe mein Leben in den Schatten begonnen,“ sagte er, und seine Stimme klang hohl. „Meine Kindheit war nichts als eine Kette von Elend. Ich war ein Leibeigener, geboren in den Dienst von Grundbesitzern und Adligen in Westemär. Meine Eltern, ebenfalls Sklaven, wurden mir entrissen, bevor ich überhaupt wusste, wie sich ihre Gesichter anfühlten. Man erzählte mir, sie seien gestorben, als ich zehn Jahre alt war – entsorgt, weil sie nicht mehr arbeiten konnten.“

Die Gruppe schwieg, während Funkenflug weitersprach. Jeder konnte die Bitterkeit und den Schmerz in seinen Worten spüren, als hätte er all diese Jahre eine Mauer errichtet, um die Erinnerungen einzuschließen. „Dann, als ich etwa dreißig Jahre alt war, kaufte mich die Silver Order. Anfangs war ich nur ein einfacher Diener, wie es viele von uns waren. Doch sie bemerkten etwas an mir. Ich nahm die Bestrafungen still hin, und…“ Er hielt inne, seine Stimme ein Flüstern. „Ich starb einfach nicht. Meine Vitalität… es war fast unnatürlich.“

Thamanea runzelte die Stirn. „Warum? Was war es?“

Funkenflug zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Vielleicht war es die Heilige Flamme selbst, die mich am Leben hielt, oder vielleicht war es einfach ein Fluch, den ich mit mir trug. Der Orden jedoch sah in mir etwas Wertvolles. Sie befahlen mir, die Putzkübel niederzulegen und stattdessen als lebendes Schild für ihre Krieger zu dienen.“

Ein bitteres Lächeln verzog seine Lippen. „Der Tod blieb mir auch damals fern. Und eines Tages entdeckten sie, dass ich die Gabe der Heiligen Magie besaß – ein schwaches Flackern, aber genug, um mich nützlich zu machen. So entschieden sie, mich zum Paladin auszubilden.“

Er hielt inne, als hätte er sich an etwas besonders Schmerzliches erinnert. „Die Heilige Flamme… Sie wurde für mich so etwas wie eine Zuflucht. Ein Anker, an den ich mich klammerte, um den Schmerz meiner Vergangenheit zu ertragen. Der Orden wurde meine Familie, die ich nie hatte. Doch Sklave blieb ich, trotz allem. Paladin oder nicht, ich war immer noch an die Ketten meiner Herkunft gebunden.“

„Doch irgendwann,“ fuhr er fort, „entwickelte ich außergewöhnliche Fähigkeiten im Kampf. Sie ermöglichten mir, in eine der Spezialeinheiten des Ordens aufgenommen zu werden – allerdings nicht in eine der ehrenhaften. Meine niedere Geburt verwehrte mir den Zutritt zu den angesehenen Truppen. Stattdessen schickte man mich in die Dunkelheit, zu den Inquisitoren der Quecksilberklinge.“

„Quecksilberklinge?“ Noita wiederholte das Wort, und ihre Stimme klang, als hätte sie einen kalten Wind gespürt. „Was ist das?“

„Eine Geheimeinheit der Silver Order, ein Gerücht, das den meisten Ordensbrüdern nur als Märchen bekannt ist,“ erklärte Funkenflug, und seine Stimme war nur noch ein Flüstern. „Wir waren die Schatten, die heimlich richteten, was die Führer des Ordens als unheilig betrachteten. Hexen, Ketzerei, Arkane Umtriebe – wir vollstreckten das Urteil der Flamme, im Geheimen und ohne Gnade.“

„Dann kam der Meteor.“ Funkenflug sah nach draußen, durch die Fenster des Gasthauses, in die Dunkelheit der Nacht. „Drakkenheim war mein Zuhause geworden. Dort hatte ich zumindest ein Dach über dem Kopf, zwei Mahlzeiten am Tag und Gefährten. Doch als der Meteor einschlug, änderte sich alles. Meine Meister, die Ordensbrüder, starben, denn sie lebten oberirdisch. Ich jedoch… ich war unten, tief in den Vorratskellern. Das rettete mir das Leben.“

„Und so wurde ich frei,“ sagte er schließlich. „Endlich frei. Aber die Stadt, die mir Schutz gegeben hatte, wurde ein Albtraum. Für die ersten Tage kämpfte ich ums Überleben, allein, umgeben von Wahnsinn und Monstrositäten. Doch mit der Zeit… gewöhnte ich mich daran. Ich lernte, in dieser zerstörten Welt zu überleben. Drakkenheim wurde mein neues Zuhause, und ich schwor mir, dass ich alles tun würde, um es von dem Fluch des Deleriums zu befreien.“

Er verstummte, und die anderen blickten ihn an, sahen die Narben, die mehr als nur Haut und Fleisch verunstaltet hatten. Funkenflug schloss die Augen. „Ich weiß nicht, ob die Flamme jemals wieder in Drakkenheim brennen wird, aber solange ich atme, werde ich es versuchen. Und vielleicht, in den Tiefen des Nebels, finde ich die Antwort.“

Die Dunkelheit im Raum schien tiefer zu werden, und ein unheilvoller Schatten legte sich über die Gemüter der Darkk Lyres. Sie saßen still da, das Knistern des Kamins und das leise Klopfen des Windes an den Fenstern waren die einzigen Geräusche in der Stille, die Funkenflugs Geschichte hinterlassen hatte.


Der 19. April begann mit einem Himmel, der in bleiernen Wolken gehüllt war, als hätten die Götter beschlossen, die Sonne für den Tag auszusperren. Der Wind heulte durch die kargen Hügel rund um Drakkenheim, und selbst das Gras, das sich zögerlich aus dem trostlosen Boden streckte, schien vor der eisigen Berührung zurückzuweichen. Funkenflug und Crois verließen Emberwood in den frühen Morgenstunden, um den bevorstehenden Sturm zu beobachten – nicht einen aus Regen oder Blitz, sondern aus Blut und Stahl.

Die beiden Gefährten hatten sich in einer geschützten Senke niedergelassen, verborgen hinter einem Dornbusch. Vor ihnen erstreckten sich die Hügel, die wie uralte Wellen eines gefrorenen Ozeans aussahen. Zwischen den Bögen der Hügel zeichnete sich in der Ferne die Silhouette des Temple Gate ab, düster und massiv, wie ein gebrochener Zahn in den Kiefern der Stadtmauer von Drakkenheim.

„Sie sind da,“ murmelte Crois und reichte Funkenflug das Fernrohr, ein wertvolles Stück, das sie auf dem Marktplatz von Emberwood erstanden hatten. Funkenflug nahm es entgegen und hob es langsam an sein Auge. Der Blick durch die Linse verschärfte die Szene: Temple Gate, ein Torhaus von eindrucksvoller Bauweise, erhob sich wie ein gewaltiger Wächter über den äußeren Mauern. Die beiden bastionartigen Türme waren schwarz von Ruß und Verfall, ihre Mauern von unzähligen Pfeilen und Schlägen gezeichnet. Ein verfallener Stolz, der sich immer noch wehrte.

Rund um das Torhaus hatten die Garmyr eine improvisierte Siedlung errichtet. Eine chaotische Ansammlung aus zerlumpten Zelten, wackeligen Barrikaden aus Holz und Metall und Lagerfeuern, die durch die dunkle Morgendämmerung flackerten. Es war ein Anblick wie ein Hornissennest: ruhelos, wild, voller Leben – und voller Tod.

Funkenflugs Blick glitt weiter. Er sah die vernarbten Körper der Garmyr-Krieger, die ihre monströsen Waffen polierten, und die finsteren Gestalten der Worgs, die ihre Reißzähne fletschten und mit hungrigen Augen in die Dunkelheit starrten. Weiter oben, auf den Wehrgängen der Türme, zogen einige Garmyr Armbrüste stramm und überprüften die Sehnen, während andere die massiven Ballisten nachluden.

„Ein Bollwerk,“ murmelte er, und Crois nickte stumm. Doch Funkenflug sah mehr. „Aber es wimmelt dort von ihnen. Ein Bienennest, wie du sagtest.“

Dann, wie aus dem Nichts, ertönte das Donnern von Hufen, und die Hügel vor ihnen erwachten zum Leben. Eine dichte Linie aus Kriegern und Reitern der Silver Order rollte wie eine Stahllawine heran, angeführt von einem hoch aufragenden Mann in glänzender Rüstung – Knight-Captain Theodore Marshall. Die weißen und silbernen Banner des Ordens flatterten im Wind, und die Krieger marschierten in geordneter Formation, ihre Speere und Piken glitzerten im trüben Licht des Morgens.

„Da kommen sie“, sagte Crois, seine Stimme gedämpft und voller Anspannung.

Funkenflug richtete das Fernrohr erneut aus und verfolgte, wie die Schlachtreihen der Ritter näher rückten. Die Kavallerie des Ordens galoppierte an den Flanken entlang, während die Infanterie vorrückte, ihre Schilde erhoben, ein Wald aus speerbewaffneten Schatten. Über ihnen zogen drei Greifenreiter ihre Kreise, gigantische Kreaturen, deren Schwingen so mächtig waren, dass sie Staubwolken von den Hügeln fegten. Die Reiter hielten Lanzen, die in der Morgensonne blitzten – sie waren die Speerspitze, die den Himmel durchbohrte.

Der erste Schlag fiel wie ein Blitz aus dem Himmel. Die Greifenreiter stürzten sich auf die Wehrgänge, ihre Kreaturen stießen ein ohrenbetäubendes Kreischen aus, das die Garmyr in Bewegung versetzte. Pfeile flogen, doch die Reiter waren zu schnell, zu geschickt, und ihre Lanzen durchbohrten die Garmyr-Bogenschützen. Ein entsetztes Heulen ertönte, als die Ballisten auf den Türmen unter dem Ansturm der Reiter zusammenbrachen, Holz splitterte, und die Geschosse in einer Explosion aus Blut und Knochen aus den Scharten der Türme stürzten.

„Sie sind schnell,“ bemerkte Funkenflug mit einem Hauch von Bewunderung. „Aber das ist nur der Anfang.“

Die Garmyr antworteten auf den Angriff wie eine entfesselte Bestie. Aus den Torhäusern und Zelten strömten sie hervor, ein Meer aus grobschlächtigen Gestalten mit zotteligen Mänteln und rostigen Klingen. Die Worgs jagten an ihrer Seite, heulend und mit rotglühenden Augen, die in der Morgendämmerung wie Flammen leuchteten. Hinter ihnen stürmten die Berserker, ihre gewaltigen Äxte erhoben, während die Höllenhunde wie Schatten aus dem Nichts auftauchten, Feuer in ihren Kehlen.

Funkenflug beobachtete, wie die Reiter des Ordens sich zurückzogen, während die Infanterie vorrückte, um die Garmyr in den Ruinen zu binden. Die Kollision der beiden Armeen war ein Donnern, das die Luft zerriss. Speere trafen auf Fleisch, Schilde prallten gegen Schwerter, und das Heulen der Worgs mischte sich mit den Kampfesrufen der Paladine.

Es war ein Gemetzel.

Die Garmyr warfen sich wie eine wütende Flutwelle auf die Schilde der Silver Order, die Reihen wankten, aber hielten stand. Funkenflug sah, wie der Knight-Captain sein Schwert schwang, ein leuchtendes Symbol der Flamme, das Garmyr-Krieger mit einem einzigen Schlag zerschmetterte. Doch die Garmyr waren zäh und zahlreich, und ihre Angriffe rissen Lücken in die Verteidigung des Ordens.

Die Entscheidung fiel, als die Garmyr-Berserker und die Höllenhunde ins Feld stürmten. Die Berserker brüllten wie wütende Bären, ihre Äxte wirbelten in brutalen Bögen, während die Höllenhunde Feuer speien, das die Rüstungen der Ritter zum Glühen brachte. Der Geruch verbrannten Fleisches hing schwer in der Luft, und der Kampflärm war ohrenbetäubend.

Crois’ Hand ruhte auf dem Griff seiner Gleve. „Vielleicht sollten wir eingreifen…“

Doch Funkenflug schüttelte den Kopf. „Nein, dies ist nicht unser Kampf. Wir sind hier, um zu beobachten, nicht um zu sterben.“

Mit den Augen fest auf die Schlacht gerichtet, ließ er den Konflikt weiter toben. Die Kavallerie des Ordens stürzte sich schließlich in die Flanke der Garmyr, und die Rammböcke wurden herangeschafft, als es den Rittern nicht gelang, die Türme zu erobern. Wie ein schwarzer Koloss rollte der Rammbock auf die Tore zu, und mit einem donnernden Schlag brachen die gewaltigen hölzernen Tore des Temple Gate auf.

Als die Ritter hindurchstürmten, sah Funkenflug das erste Aufblitzen des Sieges. Die Reihen der Garmyr brachen auseinander, und nach langen, brutalen Minuten wurden die Überlebenden in die Straßen von Drakkenheim getrieben, wie Ratten in die Schatten.

Funkenflug senkte das Fernrohr und sah Crois an. „Wir haben genug gesehen.“ Sie nickten einander zu und machten sich sofort an die Arbeit ein Gemälde von der Schlacht anzufertigen, bevor sie zurück nach Emberwood aufbrachen. Eine düstere und lebendige Erinnerung an den Kampf um das Temple Gate. Es zeigte die stählernen Reihen der Silver Order, die auf die blutdürstigen Horden der Garmyr trafen, die Greifen der Reiter, die wie Götter aus dem Himmel herabstürzten, und die finstere Silhouette der Stadtmauern dahinter.

Als sie das fertige Gemälde an Kosta Stavros im Red Lion Hotel übergaben, sah dieser es lange an, bevor er nickte und ihnen einen Beutel voller Münzen überreichte. „Ihr habt das Wesen des Krieges eingefangen,“ sagte er leise. „Und den Wahnsinn, der darin liegt.“


Am 20. April, als der Nebel dicht über die Straßen von Drakkenheim hing und die Kälte wie ein alter Fluch durch das Dorf schlich, klopfte Noitas Herz vor Nervosität schneller, als sie vor der schweren Holztür von Eldrick Runeweavers Zimmer im Red Lion Hotel stand.

Mit einem letzten tiefen Atemzug öffnete sie die Tür und die Gruppe trat ein. Das Zimmer von Eldrick war voll von alchemistischen Apparaturen und dicken Büchern, deren ledergebundene Rücken wie uralte Runen wirkten. Die Fenster waren mit schweren Vorhängen verdeckt, die den Raum in ein warmes, gedämpftes Licht tauchten. Der Duft von brennendem Weihrauch und alten Pergamenten hing in der Luft, und an einem kleinen Tisch, der mit magischen Symbolen bedeckt war, saß Eldrick, flankiert von River.

„Noita,“ begrüßte Eldrick sie mit einer Stimme, die wie das Wispern eines alten Buches klang, das seine ersten Seiten aufschlägt. „Heute wirst du in die Reihen der Akademie aufgenommen. Die Schwüre, die du heute ablegen wirst, sind nicht nur Worte – sie sind das Bindeglied, das dein Schicksal und das der Akademie für alle Zeit verknüpfen wird.“

Als sich die Darkk Lyres setzten, hob Eldrick die Hände und begann, die Schwüre vorzutragen. Seine Stimme hallte im Raum wider, und Noita wiederholte die Worte.

„Ich schwöre, mein Leben dem Studium zu widmen und mein Wissen ständig zu erweitern. Ich werde das Erlernte teilen und die Geheimnisse der Arkana bewahren, um das Gleichgewicht in der Welt aufrechtzuerhalten. Ich schwöre, stets nach Weisheit und Einsicht zu streben. Ich werde mit bedachtem Urteilsvermögen handeln und mich vor der Versuchung der Macht hüten. Durch Einigkeit und Disziplin erlangen wir Stärke. Ich schwöre, das Erbe der Edikte von Lumen zu bewahren und die Welt vor den Schrecken der Vergangenheit zu schützen. Möge die Magie, die ich trage, ein Licht in der Dunkelheit sein, ein Schutzschild für die Schwachen und ein Symbol der Hoffnung für alle, die in Not sind.“

Als sie die letzten Worte sprach, trat Eldrick vor, und in seinen Händen hielt er die Insignien der Akademie: fünf Ringe, ein Symbol für ihren Schwur und ihren Rang innerhalb der Akademie. Er überreichte ihr die Ringe mit einer feierlichen Geste, und als sie sie aufsetzte, schienen die Symbole in den Edelsteinen darin für einen kurzen Moment aufzuleuchten.

Dann erhielt sie die Robe der Akademie – ein schweres, violettes Gewand, das sich wie eine zweite Haut um sie schmiegte. Das Gefühl, das sie durchströmte, war eine Mischung aus Ungewissheit und Schwere, eine Ahnung der Verantwortung, die sie nun trug.

„Du bist nun eine Hüterin des Wissens der Amethyst Academy,“ verkündete Eldrick und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Möge deine Magie ein Licht in der Dunkelheit sein.“

Eldricks Blick wurde ernst. „Noita,“ sagte er leise, „du und die anderen werdet eine Aufgabe übernehmen, die für die Akademie von höchster Wichtigkeit ist. Im Herzen des Kraterbeckens verbirgt sich etwas – etwas, das wir verstehen müssen. Eine reine Deleriumgeode liegt dort, eine Ressource von unschätzbarem Wert. Ich möchte, dass ihr sie mir beschafft. Nur wenige sind jemals in das Herz des Kraters vorgedrungen, und nur eine hat es lebend wieder herausgeschafft – Lucretia.“

Eldrick machte eine kurze Pause. „Aber es ist nicht nur das. Die Leute des Falling Fire haben sich am Rand des Kraters niedergelassen. Sie haben dort eine alte Kapelle bezogen, und ich muss wissen, was sie dort tun.“

Noita nickte. Sie wusste, dass dies eine gefährliche Aufgabe war, aber sie fühlte die Neugier in sich brennen, das Verlangen, das Herz des Kraters zu ergründen.

„Außerdem,“ fuhr Eldrick fort, „müsst ihr auch Ryan Greymere aufsuchen. Sie ist im Rose Theater in Drakkenheim, und ich muss wissen, woran sie arbeitet. Einst war sie eine der besten Magierinnen der Akademie, aber ihre Visionen und Pläne überschritten die Grenzen der Edikte von Lumen. Sie wollte die Stadt mit Gewalt übernehmen, ein Vorhaben, das den Direktoren der Akademie zu weit ging. Man verbannte sie, doch sie setzte ihre Forschung fort. Ich vermute, sie plant, Zugang zum Inscrutable Tower zu bekommen. Wenn sie das schafft, könnte sie eine Macht erlangen, die wir nicht kontrollieren können.“

Die Gruppe spürte die Schwere seiner Worte, und dennoch spürten sie auch die Aufregung, die sie ergriff. Die kommenden Tage würden gefährlich werden.

Später, in den Tagen nach der Zeremonie, vertieften sich Noita und Thamanea in das alte Zauberbuch des Pale Man, das sie geborgen hatten. Die Seiten waren mit dunklen, krakeligen Schriftzügen gefüllt, und die Zauber, die sie lernten, waren wie Nebelgestalten – mächtig, aber schwer zu greifen. Doch sie studierten unermüdlich, denn sie wussten, dass sie jede Kraft brauchen würden, die ihnen zur Verfügung stand, wenn sie in die finstere Tiefe des Kraterbeckens eintauchen würden.


Der Morgen des 28. April war kalt und unbarmherzig, als sie zum Meteoriten aufbrachen. Ein bleiches, fahles Licht durchdrang den dichten Nebel im Stadtbezirk des Kraters. Der Boden unter ihren Füßen war bedeckt mit zerbröckeltem Gestein, verbrannten Holzbalken und metallischen Fragmenten, die wie rostige Klingen aus dem Dreck ragten. Überall lagen die Überreste einer einst großen Stadt, jetzt nur noch ein Schatten ihrer selbst. Gebäude, die früher stolze Mauern besaßen, waren in sich zusammengefallen. Ihre Fassaden schienen unter einer unsichtbaren Hitze geschmolzen zu sein, als hätten sie einem unheiligen Feuer zu nahe gestanden. Das Gestein schien stellenweise zu Glas geworden zu sein, schimmernd in einem unnatürlichen Licht, das die Deleriumsplitter reflektierten, die wie winzige Sterne in der Dunkelheit funkelten.

„Wir nähern uns dem Krater“, murmelte Thamanea, und ihre Stimme hallte gespenstisch durch die Stille. Die einzigen Geräusche waren das leise Knirschen des Schutts unter ihren Füßen und das gelegentliche ferne Krachen, wenn eine alte Mauer in den Ruinen nachgab und krachend zu Boden stürzte.

Schließlich erreichten sie den Rand des Kraterbeckens. Hier endeten die Ruinen abrupt und gaben den Blick frei auf einen gähnenden Abgrund, der sich wie ein offenes Maul vor ihnen auftat. Ein dicker, pulsierender Nebel stieg aus der Tiefe auf, und gelegentlich zuckte bläuliches Licht in grotesken Blitzen durch die Wolken. Die Winde, die hier über den Abgrund hinwegfegten, waren eisig und trugen eine fremdartige Elektrizität in sich. An den Felsen und im lockeren Erdreich ragten riesige, funkelnde Deleriumfragmente aus dem Boden.

Noita schloss die Augen und sammelte sich. Sie streckte die Hände aus und begann, die magischen Worte zu murmeln, die sie in den letzten Tagen sorgfältig aus dem Buch des Pale Man studiert hatte. Ihre Stimme wurde tiefer, resonierte mit der Macht des Zaubers, den sie beschwor. Eine unsichtbare Kraft sammelte sich um sie herum, und langsam formte sich eine schimmernde Kuppel aus Licht um die Gruppe, die den Nebel und die Dämpfe des Kraters abwehrte.

„Neutralizing Field“, flüsterte sie. „Es wird uns schützen, aber wir müssen uns beeilen. Die Magie ist stark, aber nicht unendlich.“

Die Gruppe nickte, und gemeinsam begannen sie den gefährlichen Abstieg. Der Boden war tückisch, und die Hänge des Kraters waren uneben und voller Schutt. Thamanea spürte, wie ihre Stiefel auf den glatten, schwarzen Glassplittern rutschten, die unter jedem Schritt knirschten. Der Boden war von einer seltsamen, violett-braunen Farbe, und überall wuchsen Pflanzen, die eher wie kranke Auswüchse denn wie echte Vegetation wirkten – Moos, das wie freiliegende Sehnen aussah, Wurzeln, die sich wie Adern durch den Boden schlängelten, und Blätter, die an schwärende Wunden erinnerten.

„Das hier ist nicht natürlich“, murmelte Funkenflug, als er mit seinem Stiefel eine Pflanze zur Seite schob, deren Blätter sich wie zitternde Membranen zusammenzogen. „Die Magie hier ist böse.“

Plötzlich bebte der Boden unter ihnen, und ein dumpfes Grollen erhob sich aus den Tiefen des Kraters. Die Erde vibrierte, und Risse bildeten sich unter ihren Füßen. Crois zog Noita zurück, als der Boden zu zittern begann, und sie blickten sich gegenseitig mit weit aufgerissenen Augen an.

„Was war das?“ flüsterte Funkenflug, seine Hand fest um den Griff von Ingancious gekrallt.

Dann brach der Boden unter ihnen auf. Mit einem markerschütternden Kreischen brach eine Kreatur aus dem Erdreich hervor, die selbst in den dunkelsten Alpträumen keine Gestalt gefunden hätte. Der Kraterwurm war monströs – sein Leib war eine riesige, schlangenartige Masse von tiefem Violett, durchsetzt von okkulten, schillernden Schleimschichten, die im schwachen Licht glitzerten. Der Wurm war mit Stacheln bedeckt, die wie widerhakenartige Dornen aus seinem Fleisch ragten, und sein Kopf glich einer blühenden Blüte des Schreckens. Ein maulartiges Gebilde, das sich wie die Blütenblätter einer tödlichen Pflanze öffnete, enthüllte Reihen von messerscharfen Zähnen, die im Dämmerlicht funkelten.

Die Erde erbebte erneut, als der Wurm seinen massiven Körper hin und her peitschte, das Kraterbecken aufwühlte und lose Steine sowie Teile der Vegetation in die Luft schleuderte.

„Zurück!“ schrie Thamanea und hob die Hände. Ein blaues Leuchten ging von ihrem Zauberstab aus, als sie begann, den Zauber Monster festhalten zu wirken. Arkanes Licht wuchs aus ihrem Stab, und sie schleuderte es wie einen Speer auf den gewaltigen Wurm.

Die Magie traf den Kraterwurm direkt. Ein bläuliches Netz spannte sich über seinen schuppigen Leib, und die Kreatur wurde ruckartig in ihrer Bewegung gestoppt, als ob unsichtbare Fesseln sie umklammerten. Der Wurm kämpfte und wand sich, doch die Magie hielt ihn fest.

„Funkenflug, jetzt!“ rief Thamanea, und Funkenflug sprang vor, Ignacious in seiner Faust, die Klinge wie ein gleißendes Feuer.

Mit einem wilden Kampfschrei sprang er auf die Seite der Kreatur zu und rammte die flammende Klinge in das Fleisch des Wurms. Ein schrecklicher, fauliger Gestank erfüllte die Luft, als die Waffe das Fleisch der Kreatur durchdrang, und violettes Blut spritzte heraus. Der Kraterwurm kreischte, ein lautloses Geräusch, das in ihren Köpfen zu vibrieren schien, doch die Klinge drang tiefer, bis Funkenflug schließlich den finalen Hieb setzte.

Mit einem letzten, gewaltigen Zucken fiel der Wurm zu Boden. Sein Körper schlug hart auf, und die Erde erbebte ein letztes Mal, als der Leib des Monsters leblos in den Staub fiel. Funkenflug zog das Schwert zurück, und das Blut des Wurms dampfte auf der glühenden Klinge.

„Es ist vorbei,“ murmelte Crois, doch er wusste, dass der Weg in das Herz des Kraters noch lange nicht am Ende war.

Der Krater lag still da, als die Gruppe tiefer in das Becken eindrang. Crois führte sie weiterhin an, und das magische Schimmern der Kuppel, die Noita erschaffen hatte, um die düsteren Nebelschwaden des Deep Haze abzuwehren, leuchtete in einem blassen, beruhigenden Lila. Die Spannung lag greifbar in der Luft, während die Gruppe sich der Mitte des Kraters näherte.

Dann, plötzlich, änderte sich die Atmosphäre. Die Luft wurde schwül, und ein Geruch nach Ozon, so stark, dass er die Nasenflügel brennen ließ, erfüllte die Umgebung. Crois blieb stehen, und die Gruppe kam neben ihm zum Stillstand. Vor ihnen löste sich der Nebel wie ein Vorhang, und was sich dahinter offenbarte, ließ sie alle innehalten.

Der Meteor, oder besser gesagt das Herz dessen, was einst ein kosmischer Gigant gewesen war, erhob sich wie ein monolithisches Gebilde aus dem Boden. Eine unfassbar riesige Deleriumsplitter ragte über ihnen empor, siebzig Fuß hoch und etwa dreißig Fuß breit, eine leuchtende Wunde im Herzen der Welt. Das Ding pulsierte, als wäre es ein lebendiger Organismus, und das Licht, das von ihm ausging, war so grell, dass es in den Augen brannte und Kopfschmerzen verursachte. Die Kanten des Kristalls waren scharf und zersplittert, doch das Gefüge seiner Geometrie schien unmöglich – die Winkel schienen sich zu verschieben und zu verzerren, als ob die Struktur selbst die Realität um sie herum verbog.

Crois spürte, wie sich sein Magen umdrehte, während er auf das Ding starrte, und er zwang sich, einen Schritt zurückzutreten. Doch Thamanea und Funkenflug waren wie verzaubert. Ihre Augen weiteten sich, und ihre Mienen verzerrten sich zu Ausdruckslosigkeit, als der Wahnsinn sich wie ein stilles Gift in ihre Gedanken schlich. Ihre Körper versteiften sich, die Waffen in ihren Händen sanken kraftlos zur Seite, und ein unverständliches Murmeln drang aus ihren Kehlen, als sie in das Herz des Delerium starrten.

„Nein! Schaut weg!“ rief Noita und schirmte ihre Augen ab. Doch es war zu spät. Thamanea und Funkenflug standen wie Statuen da, die Münder geöffnet, aber die Worte, die sie formten, waren sinnlos. Ihre Augen waren leer, und Noita wusste, dass der Verstand ihrer Gefährten einen tiefen Riss erlitten hatte. Ihre Gedanken waren durch das Delerium infiziert worden.

Mit äußerster Vorsicht wandte sie ihren Blick ab und zog Thamanea am Arm, spürte den leichten Widerstand, bevor die Frau ihr mechanisch folgte, als wäre sie nur noch eine Marionette. Funkenflug tat es ihr gleich, doch beide schienen keine eigenen Gedanken mehr zu fassen, als wären ihre Geister gebrochen und verloren in der Endlosigkeit der albtraumhaften Geometrie des Meteoritenherzens.

Doch Crois… Crois stand da, ungerührt, und seine Augen fixierten das leuchtende Ungetüm mit einem Ausdruck, den Noita nicht deuten konnte. „Crois, nein! Sieh nicht hin!“ Doch er reagierte nicht auf ihren Ruf. Stattdessen schien er sich tiefer in den Bann des Deleriums zu vertiefen, als wäre er in die Strukturen und Lichtspiele, die das Ding absonderte, eingetaucht.

Langsam veränderte sich sein Blick. Er schien etwas zu sehen, das jenseits der irdischen Realität lag. Der Nebel um ihn herum verdichtete sich, dann, plötzlich, schien alles zu verschwinden, als hätte eine unsichtbare Hand die Welt um ihn herum ausgelöscht. Für Crois existierte nur noch das Delerium und das, was sich hinter der schimmernden Fassade verbarg.

Die Vision traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Vor ihm breitete sich das Zentrum des Kraters aus, doch es war kein gewöhnlicher Ort mehr. Der Boden, auf dem er stand, wandelte sich zu einem riesigen Meer aus silbernem Glas. Der Durchmesser war schwer zu fassen, aber es wirkte grenzenlos, wie eine Ewigkeit aus geschmolzenem, spiegelglattem Kristall. Zarte, goldene Flammen züngelten über die Oberfläche, spielten an den Rändern des Glases, ohne es zu beschädigen oder zu verbrennen. Stattdessen schienen sie eine alte Macht zu verheißen, ein uraltes Geheimnis, das tief in den Strukturen des Universums verborgen lag.

Unter der gläsernen Fläche spürte er die statische Ladung, die durch die Erde vibrierte. Ein leises Summen durchzog alles und stimmte in einem schier unendlichen Chor, der aus allen Richtungen zu kommen schien. Die Flammen, die über das Glas tanzten, wurden heller, als ob sie auf etwas reagierten, das in ihm selbst erwachte. Dann, im Zentrum des Meeres, erblickte er einen winzigen Riss in der Luft.

Goldene Flammen züngelten an den Rändern dieses Risses, versuchten verzweifelt, die Öffnung zu schließen, aber sie waren zu schwach. Aus dem Spalt strömte eine finstere Kälte, und Crois spürte, wie die Zeit sich um ihn herum dehnte. Die Flammen schrumpften und schwächten sich ab, und er konnte die Dunkelheit jenseits des Risses erkennen. Plötzlich taten sich weitere Risse auf, die weit genug waren, dass schattenhafte Gestalten hindurchschreiten konnten. Er hörte ihr Geschrei, verzerrte, dämonische Stimmen, die vom Chaos selbst kündeten.

„ICH BIN AVIEL, DER ERSTE UND DER LETZTE,“ erklang eine monotone Stimme, so tief und kraftvoll, dass sie in Crois’ Brust vibrierte. „DIE ENGEL LEGEN ZEUGNIS AB. ICH WAR ZEUGE, WIE DIE FLAMME GEBOREN WURDE, UND ICH WERDE ZEUGE IHRES ENDES SEIN. ICH ALLEIN BIN ZEUGE DER WENDE DES ZEITALTERS.“

Die Worte hallten in Crois’ Kopf, und für einen Moment war es, als ob er nicht mehr er selbst wäre, sondern ein Fragment des größeren Ganzen. „WIRF DEINE HAND IN DAS FEUER, BEZEUGE DORT DEN WUNSCH DEINES HERZENS. ZUR FLAMME SOLLST DU FRAGEN; DAS GEBET STEIGT ZU DEN THRONEN IN DER HÖHE AUF.“

Wie in Trance streckte Crois seine Hand aus, und die goldenen Flammen umschlossen sie. Ein brennender Schmerz durchzuckte ihn, doch mit ihm kam auch eine Erkenntnis – eine Erleuchtung, die sein Bewusstsein sprengte und ihn die Wahrheit des Universums erkennen ließ.

Er sah den Kreislauf der Zeitalter, das ständige Aufbäumen des Lichts gegen das Chaos, die ewige Entropie, die das Universum durchzog. Das Chaos war das wahre Gesicht der Ewigkeit, und die Flamme, die Ordnung versprach, war nichts weiter als ein schwaches Strohfeuer. Die Heilige Flamme war der Versuch, das Unendliche zu formen, doch sie war dem Untergang geweiht. Jedes Zeitalter schwächer, kürzer, bis am Ende nichts mehr blieb als die unendliche, allumfassende Dunkelheit.

Er erkannte, dass die Flamme nur ein schwacher Schutz in einem entropischen Universum ist, das unweigerlich zurück ins Chaos stürzt. Und am Ende würde nichts mehr bleiben.

Nichts außer ihm, und dem, was noch kommen würde.

Scroll to Top