Session 31 – Die Geheimnisse des Unergründlichen Turms

Das Gelände des Inscrutable Tower lag vor ihnen wie ein verfluchtes Reich, ein Ort, an dem die Realität unter der Last einer vergangenen Katastrophe gebrochen war. Die Darkk Lyres standen am Eingangstor zum Campusgelände der Amethyst Academy, und in der Dunkelheit funkelten die Obsidianwände des Turms, als hätten sie das Licht der Sterne selbst verschluckt. Der Turm ragte weit in den Himmel hinauf, ein monolithisches Gebilde aus glattem, schwarzem Stein, der jeden Lichtstrahl verschluckte, als ob er ein Tor in die Leere selbst wäre. Der Anblick des in der Luft schwebenden Turmteils, von dem sich Trümmer und zersplitterte Bücher wie gefrorene Blätter im Wind verteilten, ließ ihre Nackenhaare aufrecht stehen. Ein Meteoreinschlag hatte den Turm in zwei Teile gerissen, und das obere Drittel schwebte wie in einem ewigen Schwebezustand, die Trümmer drumherum ein Mahnmal für die Urgewalt, die hier gewütet hatte.

Um den Turm erstreckte sich ein verzerrter Garten. Was einst ein gepflegter Akademieplaza gewesen war, war nun überwuchert von wuchernden, kristallinen Deleriumsäulen, die sich wie knorrige Finger zum Himmel streckten. Zwischen den Kristallen lag ein kleiner künstlicher See, dessen Wasser trügerisch still lag, aber unter der Oberfläche ein unheilvolles Glitzern zeigte. Über dem Wasser ragte ein steinerner Sockel auf, umwunden von geschwungenen, arkanen Bögen, die wie die letzten Überreste eines längst vergessenen Rituals wirkten.

Doch es waren nicht nur die Ruinen und Kristalle, die den Garten in ein Albtraumland verwandelten. Die Monster, fleischige Abscheulichkeiten, die durch die Überreste krochen, verzerrten die Szenerie zu einer grotesken Parade des Grauens. Diese Wesen, eine unförmige Masse aus zuckenden Gliedmaßen, bösartig flackernden Augen und zuckenden, sich stetig verändernden Mündern, murmelten und wimmerten unverständliche Worte, die sich in einem widerlichen Chor vermischten. Ihre Körper, unberechenbar und unfassbar, wanden sich um die Deleriumkristalle, ihre Glieder schleimig und von unnatürlicher Zähigkeit. Der Gestank von verrottendem Fleisch und altem Blut lag schwer in der Luft.

Noita hob ihre Hände, und eine dichte Aura aus violett schimmernder Magie legte sich wie ein Schleier um sie. „Neutralizing Field“, murmelte sie, ihre Stimme kaum hörbar über das unstete Wispern der Abscheulichkeiten hinweg. Die Aura war ihre einzige Waffe gegen den tückischen Deep Haze, der aus den Tiefen der Gärten quoll und alles verzehrte, was ohne Schutz seinen Nebel durchquerte.

Langsam schlichen sie sich durch den Garten, immer darauf bedacht, die Wesen nicht aufzuschrecken. Die Dunkelheit um sie herum war fast greifbar, und die Sonne war kaum mehr als ein schmaler Sichelstrich am Himmel, der die Albtraumlandschaft mit blassem Licht beleuchtete. Crois bückte sich und hob einen kleinen Stein auf, kalt und glatt wie Marmor. Er visierte einen knorrigen, abgestorbenen Baum an, dessen Äste wie die Klauen eines verhungerten Greifs in die Dunkelheit griffen. Mit einem geschickten Wurf prallte der Stein gegen den Stamm, ein leises, aber deutliches Geräusch in der Stille des Nebels.

Die Monster, wie angezogen von dem Klang, wandten ihre verformten Köpfe und krochen gierig in die Richtung des Geräuschs. Ihre verschlungenen, unförmigen Körper hinterließen schleimige Spuren auf dem Boden, als sie sich fortbewegten. Die Lyres nutzten die Gelegenheit und eilten weiter, ihre Schritte leicht und flüsternd auf den brüchigen Pflastersteinen, bis sie vor dem Eingang des Turms standen.

Ein steinerner Pavillon erhob sich vor den dunklen Stahltüren, die den einzigen Zugang zum Turm markierten. Der Pavillon war kunstvoll gestaltet, einst ein Ort der Ruhe, doch nun überwachsen von dunklen Ranken und Moos, die wie Schatten über den Stein krochen. Auf den Pflastersteinen vor dem Pavillon lag ein arkaner Teleportationszirkel, die Linien und Runen leuchteten in einem dumpfen, krankhaften Purpur, von dem ein leichter Hauch von Dunst aufstieg. Doch irgendetwas daran war falsch. Der Zirkel, einst ein Tor für die Meister der Akademie, war nun von den Kräften des Deep Haze korrumpiert und zerbrochen, seine Magie verdorben und nutzlos.

„Kein Weg zurück,“ flüsterte Noita, als sie mit ihren Fingerspitzen die kalten Linien des Kreises berührte. „Dieser Zirkel ist unbrauchbar.“

Im Pavillon fanden sie eine silberne Gürtelschnalle, das Metall schimmerte im matten Licht und strahlte eine schwache, aber spürbare Magie aus. Sie teilten einen nachdenklichen Blick – jemand war kürzlich hier gewesen, jemand, der vielleicht mehr wusste über das, was hier vor sich ging. Die Stille war ein lähmender Schleier, und das Wispern der fleischgewordenen Abscheulichkeiten kam wieder näher.

„Zeit, weiterzugehen,“ zischte Crois, die Anspannung in seiner Stimme deutlich hörbar. Sie schlichen weiter zum Eingang des Turms, während die Kreaturen hinter ihnen heranschlichen, ihre hungrigen Laute ein unheilvolles Echo im Nebel.

Die Türen des Inscrutable Tower ragten hoch und drohend vor ihnen auf. Dunkel und glatt, aus einem Material, das wie polierter Stahl aussah, aber sich anfühlte wie kaltes, lebendiges Fleisch, trugen sie das Symbol der Amethyst Academy: ein lidloses Auge, eingebettet in ein Oktagramm. Kein Griff, keine Scharniere waren zu sehen, nur die leere, unmenschliche Glätte des Metalls.

Noita trat vor, ihre Hand gehoben. An ihren Fingern glitzerten die Siegelringe der Akademie. Sie legte die Handfläche gegen das kalte Metall, und für einen Moment geschah nichts. Dann begannen die Ringe zu glühen, und eine Reihe arkaner Runen blitzte auf, huschte wie Geister über die Oberfläche der Tür. Ein Klicken ertönte, gefolgt von einem tiefen, mechanischen Brummen, das wie das Knurren eines uralten Tieres klang. Die Türen glitten auseinander, ein blendendes Licht blitzte auf, und ein leises, fast lebendig wirkendes Zischen erfüllte die Luft.

„Rein,“ murmelte Noita, und sie verschwanden im Schlund des Turms, die Kreaturen draußen blieben zurück.

Als die Darkk Lyres durch die massiven Türen des Inscrutable Tower traten, schloss sich die Dunkelheit wie ein hungriger Schlund hinter ihnen. Die Türen glitten mit einem tiefen, metallischen Dröhnen zu, und das Echo hallte durch die gewaltige Lobby, die sich wie eine kalte, uralte Kathedrale vor ihnen erstreckte.

Der Raum war ein Wunderwerk der Magie und Architektur – ein gewaltiger Saal, dessen Decke fast fünfzig Fuß hoch war und von glatten, obsidianen Säulen getragen wurde. Diese waren mit feinster Präzision in filigrane, arkan leuchtende Sigillen graviert, die wie glimmende Augen aus der Dunkelheit starrten. Der Boden bestand aus poliertem Marmor, glatt und makellos, und reflektierte die schimmernden Lichter, die durch die Luft tanzten – winzige spektrale Lichtkugeln, die wie Irrlichter durch den Raum schwebten und ein gedämpftes, unheimliches Glühen erzeugten.

Die Wände der Lobby waren von schmalen, durchsichtigen Öffnungen durchzogen, die wie Schlitze in einem Helm aussahen. Durch diese Fenster, kaum mehr als dünne, durchsichtige Fugen, konnten die Lyres die verzerrte Außenwelt von Drakkenheim erkennen, ein Reich aus waberndem Nebel und schattenhaften Silhouetten, das von der tiefen Dunkelheit des Deep Haze verschlungen wurde. Auf zwei Seiten des Raumes standen drei Sätze metallener Doppeltüren, deren Oberfläche im magischen Licht glänzte. In den Ecken der Lobby wanden sich schmale Wendeltreppen aus Glas und Metall die obsidianen Säulen hinauf, jede von ihnen ohne Geländer, als wäre das Risiko des Falls eine Prüfung an den Mut derer, die sich in diesen Turm wagten.

Über den Rest des Raumes erstreckten sich kniehohe Trennwände aus dunklem Stein, die kleine, halbprivate Bereiche formten. Glasgedeckte Tische und metallene Stühle waren hier verteilt, als wäre dies einst ein Ort des Austauschs und der Studien gewesen. Doch jetzt war alles verwaist und von unheilvoller Stille umhüllt.

Kaum hatten sie den ersten Schritt in diese trostlose Halle gemacht, als das unheimliche Flüstern der Magie in der Luft eine Form annahm. Die Schildwächter, vier gepanzerte Konstrukte, die in den Ecken des Raumes lauerten, erwachten plötzlich zum Leben. Ihre metallischen Gliedmaßen ratterten und klirrten, als sie sich in Bewegung setzten, die Augen glühten rot und kalt wie die Glut eines erloschenen Feuers. Ihre Körper, von einem magischen Schimmer umhüllt, waren die perfekte Verkörperung arkaner Wächter – geschaffen, um den Turm zu beschützen, und ohne Gnade für jene, die ihn betreten.

„Zurück!“ rief Noita, als einer der Wächter eine magische Geste vollführte und ein eisiger Sturm über den Marmor fegte. Eissplitter wirbelten in einem wirbelnden Tornado, und die Kälte biss sich in ihre Haut. Noita hob ihre Hände, und ein pulsierendes Licht entzündete sich an ihren Fingerspitzen. Sie stieß die Energie in einem Kreis um die Gruppe herum. Die Flammen schossen empor, eine Wand aus wütendem Feuer, die den Raum in warmes Licht tauchte und die eisige Kälte zurückdrängte. Doch die Wächter waren vorbereitet – ein zweiter von ihnen sprach ein Zauberwort, und ein neuer Sturm aus Eis und Wind prallte gegen Noitas Flammen.

Es war klar, dass sie den Kampf nicht lange durchhalten konnten. Funkenflug und Crois tauschten einen schnellen Blick, und mit einem knappen Nicken teilten sie sich auf. Noita sprintete zur Wendeltreppe zu ihrer Rechten, ihre Schritte leicht und präzise, während sie sich die spiralförmigen Stufen hinaufschraubte. Funkenflug, Crois und Thamanea rannten in die entgegengesetzte Richtung, die andere Treppe hinauf, ihre Bewegungen geschmeidig wie Schatten. Die Wächter, die nur einer bestimmten Route folgen konnten, blieben unten zurück, verwirrt von der plötzlichen Flucht in zwei Richtungen.

In den oberen Etagen fanden sie sich in einem Labyrinth aus Gängen wieder, die mit dunklen Marmorböden und obsidianen Wänden gesäumt waren. Die Apprentice Dormitories waren eine Ansammlung kleiner Kammern, jede bestückt mit vier einzelnen Kojen, die in symmetrischer Anordnung entlang der Wände standen. Über jeder Koje befand sich ein Regal, bestückt mit persönlichen Gegenständen und alten, verstaubten Tagebüchern. An den Regalen hingen eiserne Laternen, die von magischen Lichtern erfüllt waren und das kühle, aber behagliche Licht eines ewigen Feuers spendeten. In der Mitte der Kammer befand sich ein kleiner Gemeinschaftsraum, ausgestattet mit einem gläsernen Tisch und einer gefliesten Feuerstelle, die ohne Rauch und Ruß warme, beruhigende Flammen ausstrahlte.

Die Luft war erfüllt von einem schwachen Duft nach alten Büchern und Magie, ein Relikt aus besseren Zeiten, als die Lehrlinge der Akademie hier studierten und diskutierten. Nun war es still, das Einzige, was ihre Anwesenheit verriet, war das leise Flackern der magischen Feuer und die anhaltende, gespenstische Ruhe.

Wieder vereint, fanden sie einen der Aufzüge des Turms. Die metallenen Doppeltüren standen vor ihnen, und eine von ihnen war leicht geöffnet, als hätte jemand sich in Eile durch sie hindurchgezwängt. Dahinter öffnete sich ein zehn Fuß breiter Schacht, in dem es vor arkaner Energie knisterte und summte. Ab und an entlud sich ein Blitz mit einem gewaltigen Krachen, das den Schacht auf und ab hallen ließ.

„Das ist unser Weg nach oben,“ erklärte Noita, doch Funkenflug und Crois zögerten. Die schimmernden, prismatischen Plattformen, die im Schacht schwebten, waren erfüllt mit flackernden, vertikalen Runen, die von unten nach oben leuchteten. An der glatten Wand des Aufzugschachts befanden sich Runen, welche die einzelnen Bereiche des Turms kennzeichneten: „Lobby“, „Great Hall“, „Residences“, „Research Levels“, „Library“, und „Director’s Office“. Funkenflugs Gesicht verzog sich zu einer skeptischen Grimasse. „Dem vertraue ich nicht“, murrte er.

Doch Noita beharrte, und schließlich stiegen sie auf die Plattform, die unter ihren Füßen leicht vibrierte. Sie sprach „Stockwerk 63“, und die Plattform schoss mit einer Geschwindigkeit nach oben, die den Magen der Gruppe in die Knie zwang. Die Lichter verschwammen um sie herum, als die Plattform die Ebenen durchquerte, ein Windstoß zog an ihnen vorbei, und das Knistern der Magie war fast ohrenbetäubend.

Schließlich hielt die Plattform mit einem ruckartigen Zucken an. Die Türen glitten auf und gaben den Blick frei auf die 63. Etage. Vor ihnen lag die große Bücherei.

Die Bibliothek des Inscrutable Towers war ein gewaltiges Labyrinth aus schwebenden Plattformen und endlosen Reihen von Büchern, das sich über den Raum wie ein unheilvolles Netz spannte. Die Luft war erfüllt von einer Magie, die sich wie eine unsichtbare Hand um den Verstand legte, und selbst das Atmen fühlte sich schwer an, als würde der Turm selbst den Willen derjenigen prüfen, die ihn betraten.

Als die Gruppe eintrat, wehte ein leichter, kalter Wind durch den Raum, und sie sahen, wie Treppen aus schwarzem Marmor sich schwindelerregend von Wand zu Wand wanden, sich in grotesken Winkeln bogen und manchmal scheinbar ohne jeden Sinn auf dem Kopf standen. Diese Treppen zickzackten in die Höhe, während riesige Bücherregale aus gesprenkeltem Granit und Glas sich wie Schachfiguren in der Luft bewegten, als würden sie einem unsichtbaren Spiel folgen. Die schwebenden Regale rumpelten, als sie ihre Positionen wechselten, und eine tiefe Vibration durchdrang den Raum, als würde die gesamte Bibliothek atmen und sich mit einem eigenen, unheimlichen Rhythmus bewegen.

Überall auf den Plattformen, die in unregelmäßigen Abständen in den Raum ragten, lagen Bücher in allen Formen und Farben. Einige waren sorgfältig gestapelt, andere lagen in chaotischen Haufen, als wären sie vom plötzlichen Schweben erfasst worden. Obsidianverzierte Tische, mit weichen, samtigen Sofas bestückt, und leuchtende Bernstein-Kugeln schufen kleine Nischen für das Studium, aber sie waren leer und verlassen – Relikte einer verlorenen Zeit, in der hier noch Gelehrte arbeiteten.

„Die Schwerkraft funktioniert hier nicht wie sonst,“ murmelte Crois, als er den Boden verließ und langsam in die Luft schwebte. Er hielt sich an einer der schwebenden Bücherreihen fest, während er sich orientierte.

Noita grinste. „Hier wird die Bewegung durch den Intellekt kontrolliert. Je klüger du bist, desto besser kannst du dich bewegen.“ Sie schloss kurz die Augen, und es war, als ob die Magie des Ortes auf ihren Befehl reagierte. Ihr Körper schwebte mühelos in die Höhe, und sie glitt durch den Raum, als wäre sie ein Fisch, der sich durch Wasser bewegte.

Funkenflug, der es weniger gut beherrschte, drückte sich von einer schwebenden Treppe ab und ruderte mit den Armen, um etwas Kontrolle zu gewinnen. „Schön für dich, Noita,“ knurrte er. „Ich bleibe lieber auf festem Boden.“

Doch der Boden war hier eine Illusion. Die Gruppe bewegte sich durch den Raum, während sie an den Bücherregalen und Plattformen entlangzogen, sich von Kante zu Kante abstieß und die Schwerkraft manipulierte, die an diesem Ort keine feste Regel mehr kannte. Alles schwebte – von den Objekten bis hin zu den Treppen und den Plattformen selbst – als wäre die Welt aus den Angeln gehoben worden.

Über ihnen begann der Raum, sich zu verengen, und sie näherten sich dem oberen Ende der Bibliothek, wo der Turm gebrochen war. Hier, wo das Chaos seinen Höhepunkt erreichte, sahen sie den Sturm im Bruch des Turms. Eine gewaltige Spalte durchzog die Turmstruktur, und zwischen den Trümmern tobte ein Sturm aus magischen Blitzen und knisternder Energie. Treppenabschnitte, zerbrochene Bücherregale und Plattformen schwebten in diesem Sturm, von den Blitzen erhellt, während sich Brocken aus Delirium und meteoritischem Eisen umherwirbelten und der Luft ein bleiches, krankhaftes Leuchten verliehen.

Plötzlich wurde die Stille durch das Aufbrüllen von Elementarkräften zerrissen. Drei Wesen materialisierten sich aus den Blitzen und dem Chaos um sie herum: Ein Feuerelementar, dessen Körper aus lodernden Flammen bestand, ein Luftelementar, der wie ein Wirbelsturm durch den Raum schoss, und ein Erdelementar, dessen gewaltiger Leib aus schwebenden Brocken von Stein und Metall bestand, die wie die Wellen eines Gesteinsmeeres um ihn kreisten.

Noita reagierte als erste. „Trennt sie auf!“ rief sie und entfachte einen Feuerzauber in ihren Händen, während sie durch die Luft glitt. Der Feuerelementar schoss auf sie zu, und ihre Zauber stießen aufeinander wie zwei Flammen, die sich ineinander verschlangen. Crois sprang in die Schlacht, stieß sich von einem nahegelegenen Bücherregal ab und schleuderte seine Gleve in den Kern des Luftelementars. Das Wesen wütete, und Winde wirbelten durch den Raum, rissen Bücher und Pergamente mit sich. Funkenflug hingegen stellte sich dem Erdelementar, wehrte einen Schlag mit seinem Schwert ab und ließ sich von einer Plattform zur nächsten ziehen, während er versuchte, die magischen Blitze des Turms für seine Angriffe zu nutzen.

Thamanea hingegen bewegte sich lautlos durch die taumelnden Fragmente der Bibliothek, wie ein Schatten, der kaum Spuren hinterließ. Ihre Augen glühten kalt, als sie die magische Essenz des Luftelementars spürte, der von Crois’ Gleve abgelenkt und für einen Moment ungeschützt war. Sie zog sich von einem schwebenden Bücherregal ab und stieß sich kraftvoll ab, glitt lautlos durch die Luft. Als sie nahe genug war, hob sie die Hand, die von einer dunklen, pulsierenden Energie umwoben war, die wie schwarzer Rauch aus ihren Fingerspitzen quoll.

Sie legte ihre Hand auf die ätherische Gestalt des Luftelementars, und wo ihre Finger ihn berührten, verfinsterte sich die schimmernde Masse des Wesens. Ein eisiges, unnatürliches Zucken durchlief die Luft, als die nekrotische Macht ihre Spur hinterließ und das Elementarwesen aufjaulte. Sein Körper wurde zerfressen, als ob eine unsichtbare Hand ihn von innen heraus verzehrte, und die zuvor wütenden Winde begannen zu stottern, bevor sie in einem schwachen Heulen verebbten.

Der Kampf tobte im schwebenden Raum, und es war, als wäre die gesamte Bibliothek in einen wütenden Tanz aus Elementen und Magie verwickelt. Noita konzentrierte sich auf den Feuerelementar, ihre Augen brennend vor Entschlossenheit. Mit einer gezielten Bewegung sprach sie die Worte eines Zaubers, und ihre Magie hüllte das Wesen ein. Ihre Kontrolle zwang das Feuer in eine Form, und schließlich beugte sich der Feuerelementar ihrem Willen. Sie schwang ihren Arm, und der Elementar, nun ihr Diener, stürzte sich auf die anderen Feinde. Mit den gebündelten Kräften gewannen die Darkk Lyres den Kampf, und die Elementare zerfielen in ihre Bestandteile, die wie fallende Sterne durch den Raum zerstreut wurden.

Geschafft, aber erschöpft, schwebten sie weiter und kämpften sich durch den Sturm, der sich über der Bibliothek erhob. Die Blitze zuckten gefährlich nahe, und der Raum war erfüllt vom donnernden Krachen der magischen Entladungen. Die Luft war schwer und geladen, als würden sie durch das Herz eines Sturmes aus purer Magie fliegen. An manchen Stellen mussten sie sich ducken, als Splitter von zerbrochenen Plattformen und Regalen an ihnen vorbeischossen, andere Male konnten sie sich an herumschwebenden Trümmern festhalten und sich durch die chaotische Landschaft manövrieren.

Schließlich fanden sie am Rande des Sturms eine Wendeltreppe, die aus dem nächsten Stockwerk herabhing. Die Plattformen und Treppen normalisierten sich langsam, als sie die Treppe erreichten. Die Schwerkraft kehrte in ihre vertrauten Bahnen zurück, und die Gruppe spürte wieder den festen Boden unter den Füßen.

Die Gruppe betrat einen langen Korridor, dessen Wände mit dunklem Holz getäfelt und von magischen Flammen in wandlungsfähigen Lampen beleuchtet wurden. Diese Flammen flackerten leise, als ob sie auf den Hauch eines unhörbaren Windes reagierten, und warfen gespenstische Schatten, die wie geisterhafte Hände über die Gemälde an den Wänden glitten. Die Porträts alter Magier blickten ihnen mit Augen entgegen, die aus den dunklen Tiefen der Zeit zu ihnen starrten, ihre Lippen ein stummes Flüstern in einer Sprache, die längst vergessen war.

„Das müssen die Apartments der Zauberer sein“, murmelte Noita und berührte die Tür, die von einem verblassten Siegel aus arkanen Symbolen bewacht wurde. Die Türen der Apartments waren, wie es in den Tagen der Turmherrschaft Brauch war, mit einem Bann belegt, der nur den ursprünglichen Bewohnern Zutritt gewährte. Doch hier und da, wo die Magie verblasst war oder durchbrochen wurde, lagen die Kammern offen und preisgegeben, als stumme Zeugen der einstigen Macht der Bewohner.

Im Inneren eines der Zimmer fand sich die Gruppe in einem Salon wieder, in dem schwere Teppiche den Boden bedeckten und die Luft nach dem staubigen, muffigen Geruch ungeöffneter Bücher roch. Ein unsichtbarer Diener – ein Überbleibsel der einstigen Magie – polierte methodisch einen silbernen Kerzenständer, der nie mehr Kerzen tragen würde. Sie fanden einen Arbeitsraum mit einem summenden Kristall, der vor langer Zeit als Fokus für Beschwörungen gedient haben mochte. In der Ecke stand ein kleiner Tisch, auf dem noch Federkiele und Pergament lagen, vergilbt und brüchig. In einem weiteren Raum, der nach verbranntem Räucherwerk roch, glitzerte ein Becken für Weissagungsmagie in der Ecke, sein Wasser schwarz wie die Tiefen des nächtlichen Himmels.

Sie durchstreiften die Räume, bis sie schließlich die Spellforge entdeckten. Die Zauberschmiede lag in einem Bereich, der wie ein Trainingsfeld für Magier wirkte. Vor einem Podest, das von silbernen Runen umgeben war, befanden sich Reihen von Trainingspuppen, die in verschiedenen Posen eingefroren standen. Die Puppen waren mit arkanen Symbolen bemalt, die bei Berührung wie heiße Kohlen glühten. „Hier haben die Lehrlinge wohl ihre Zauber geübt“, sagte Funkenflug, als er mit einem vorsichtigen Finger über die Symbole fuhr. „Sie haben sogar einige Schriftrollen zurückgelassen.“ Noita sammelte die Schriftrollen ein, ihre Augen blitzten neugierig auf, während sie durch die Linien und Symbole der Zaubertricks blätterte. Sogar Crois hatte die Gelegenheit einige der Spruchrollen zu benutzen und Feuerpfeile zu üben.

Nach der Spellforge fanden sie den Weg zur Elementarschmiede – einem der geheimnisvollsten und mächtigsten Räume des Turms. Die Werkstatt war eine große Kammer, in der das Licht matt durch die Fenster fiel, die in den Fels gehauen waren. Dort stand ein riesiger, kreisförmiger Schmelzofen. In einer Ecke schimmerte ein Blasebalg aus schmutzigem Messing, daneben ein gewaltiger Amboss, von dem eine unheimliche Kälte ausging. Ein steinernes Becken voller eingefrorenem Wasser lag in einer weiteren Ecke des Raums, in dem sich eisige Kristalle gesammelt hatten.

„Die Elementare sind erloschen“, bemerkte Thamanea, als sie mit ihrer Hand über die Oberfläche des Beckens fuhr. „Aber wenn wir die richtigen Prozeduren anwenden, können wir sie vielleicht wieder entfachen.“

Noita nickte und zog die Schriftrolle hervor, die sie in der Bibliothek gefunden hatten. „Wir brauchen nur die richtigen Zauber.“ Mit präzisen Bewegungen und murmelnden Worten, die im Raum widerhallten, belebte die Gruppe nacheinander die Elementarenergien neu. Die Flammen loderten im Ofen auf, heiße Atemzüge drangen aus dem Blasebalg und das Wasser im Becken begann zu dampfen, während es sich langsam wieder verflüssigte.

Nachdem die Schmiede wieder erwacht war, holte Noita die Teile eines der Automaten hervor, die sie aus dem Uhrwerkturm mitgebracht hatte. Unter der Leitung von Crois schmiedeten sie das Konstrukt neu. Crois, seine Stirn schweißnass und seine Hände geschwärzt von der Hitze des Ambosses, legte die letzten Stücke zusammen. Das Ergebnis war ein fliegendes Konstrukt, ein Uhrwerk aus Bronze mit Flügeln aus filigranem Metall und einem funkelnden Edelstein als Kern. Es schwebte, als wäre es von einer unsichtbaren Kraft gehoben, und bewegte sich sanft auf und ab, als es das erste Mal „atmete“.

„Ich werde ihn Silver nennen“, sagte Noita, während sie bewundernd das Konstrukt betrachtete, das sich nun wie ein treuer Begleiter an ihre Seite gesellte. „Von nun an wird er uns folgen.“

Die Gruppe verließ die Elementarschmiede und bewegte sich leise weiter durch die düsteren Gänge, das Licht ihrer Fackeln spiegelte sich in den blankpolierten Marmorböden wider. Die Wände waren mit verblichenen Teppichen geschmückt, die Szenen alter, magischer Schlachten und Rituale zeigten. Die Gesichter der Magier darauf waren seltsam verzerrt, als hätten Jahrhunderte der Einsamkeit und des Staubs ihre einst prächtigen Gestalten zu gespenstischen Abbildern ihrer selbst verdreht. In der Stille hörte man das Flüstern, das aus den längst verlassenen Zimmern der längst toten Bewohner zu kommen schien – ein beständiges, unheimliches Raunen, das wie eine schwache Erinnerung an vergangene Zeiten durch die Luft schwebte.

Permanent unsichtbare Diener, gebannt in die Gemäuer selbst, arbeiteten unermüdlich im Hintergrund, wischten Staub fort, richteten herumliegende Pergamente auf und entzündeten die wenigen verbliebenen Wandfackeln, als die Gruppe den Weg entlang schritt. Hin und wieder spürten Noita und Thamanea das Kitzeln von Magie in der Luft – die Überreste komplexer Zaubersiegel, die die Türen verschlossen hielten und sicherstellten, dass nur diejenigen Zutritt erhielten, die den Schlüssel trugen oder die Geheimnisse dieser längst vergessenen Zauberer verstanden.

Der Weg führte sie durch enge Korridore und an verschlossenen, mit Runen versehenen Türen vorbei, bis sie schließlich eine breite Treppe erklommen, die spiralförmig in die Höhe führte. Am Ende der Treppe erreichten sie eine massive Doppeltür aus dunklem Holz, in das geschwungene Muster eingelegt waren, die an Schlangen und verschlungene Runen erinnerten. Eine in Amethyst gefasste leuchtende Kugel, prangte in der Mitte.

Mit einem tiefen Atemzug öffnete Funkenflug die Türen, die lautlos und mit einem Gefühl kalter Magie zurückschwangen, als sie eintraten.

Das Director’s Office lag vor ihnen wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Der Raum war kreisrund, und die Wände schienen sich wie ein lebender Organismus leicht zu wölben, als würden sie atmen. Ein massiver Obsidianthron erhob sich am gegenüberliegenden Ende des Raums, flankiert von hohen, eisernen Kandelabern, deren Flammen ein unnatürlich bläuliches Licht ausstrahlten. Das Licht schien lebendig zu sein, es flackerte und tanzte, als wollte es die Gestalten der Eindringlinge umschlingen und sie in die Schatten ziehen.

Über dem Thron war das Wappen der Amethyst Academy eingraviert, doch es schien älter und bedrückender, als sie es aus anderen Teilen des Turms kannten. Der marmorne Boden war mit einem detailreichen Abbild eines arkanen Astrolabiums verziert, das die Ebenen und Sterne des Multiversums in akribischer Präzision zeigte. Über ihnen schwebte ein Kronleuchter, ein Geflecht aus Stahl und Kupfer, das sich in langsamer, beständiger Bewegung drehte und die himmlischen Sphären nachbildete. Ein endloser Tanz der Sterne und Welten, der in einem hypnotischen, fast tranceartigen Rhythmus verlief.

Thamanea schritt vorsichtig voran, ihre Augen auf die Details des Raums gerichtet, während Noita die Umgebung nach magischen Signaturen absuchte. Auf einer hölzernen Puppe neben dem Thron hing eine mechanische Rüstung, kunstvoll gefertigt und von Magie durchzogen. Zahnräder und kleine Kupferscheiben glitzerten im bläulichen Licht, während Runen auf den Metallplatten langsam zu pulsieren schienen, als ob sie die Ankunft der Gruppe gespürt hätten.

„Sie ist magisch,“ flüsterte Thamanea und trat näher. Sie berührte die Rüstung vorsichtig, und ein feiner, kalter Schauer lief ihr den Arm hinab. „Das ist Uhrwerk-Magie… uralte Technik, kombiniert mit arkaner Macht.“ Ohne zu zögern, legte sie die Rüstung an. Die Platten schlossen sich wie von selbst um ihren Körper und formten eine glänzende, fast ätherische Barriere. Die Runen begannen, heller zu leuchten, als sich das Uhrwerk in Bewegung setzte und ein leises, beruhigendes Summen die Stille des Raums durchbrach.

Noita hatte inzwischen eine kleine, verschlossene Truhe entdeckt, die auf einem Tisch hinter dem Thron stand. Sie kniete sich nieder, ihre Finger arbeiteten flink an dem Schloss. Ein leises Klicken ertönte, und die Truhe sprang auf. Im Inneren lag ein Deleriumkristall, der schwach in einem giftigen Violett leuchtete, und ein vergilbter Lieferschein.

„Isle of Skye,“ murmelte Noita und hielt das Dokument hoch, das beinahe unter ihren Berührungen zerfiel. „An die Akademie geliefert. Das muss der Kristall sein, von dem die ehemalige Erzmagierin sprach. Die Energiequelle für das Uhrwerk im Clockwork Tower“ Thamanea nickte, ihre Augen auf das Relikt gerichtet. Der Kristall pulsierte wie ein Herz, und das Licht, das er verströmte, warf lange, verzerrte Schatten an die Wände.

„Aber… dieser Kristall… das Datum ist alt,“ flüsterte Thamanea. „Lange bevor der Meteor in Drakkenheim einschlug.“ Sie runzelte die Stirn und ihre Augen verengten sich. „Das bedeutet… dieser Kristall wurde auf der Insel ausgegraben, lange bevor die Katastrophe begann. Das wirft Fragen auf.“

Neben der Truhe lag ein alter Stapel Bücher. Einige von ihnen waren zerfleddert und schienen die Geschichte der Sorcerer Kings und die Edikte von Lumen zu beinhalten. Doch eines fiel ihnen besonders ins Auge – ein Buch, dessen Lederumschlag mit goldenen Lettern den Titel „Der Ursprung des Unergründlichen Turms“ trug. Noita schlug es vorsichtig auf und las die Worte:

„Dieses rätselhafte Bauwerk war schon seit Anbeginn der Geschichtsschreibung ein Rätsel. Niemand kann genau sagen, wann es in Drakkenheim auftauchte, aber die meisten glauben, dass es einige Zeit nach den Edikten von Lumen gewesen sein muss. Es gibt jedoch keine Aufzeichnungen über seine Errichtung, was angesichts der Tatsache, dass der Bau des massiven Turms Jahrzehnte gedauert haben muss, unvereinbar erscheint. In Wahrheit ist der Unergründliche Turm die uralte und legendäre verborgene Festung der Sorcerer Kings. Dieser extraplanare Kerker wurde in der Antike von mächtigen und wahnsinnigen Zauberern im chaotischen Space Between Worlds erbaut, um ihr magisches Wissen zu verstecken, geriet dann aber in Vergessenheit und war tausend Jahre lang verlassen. Als die Magier der Amethyst Academy ihn vor einigen hundert Jahren entdeckten, zapften sie die immense Macht des arkanen Nexus an, um das gesamte Bauwerk in die Welt der Sterblichen zu versetzen, wo es nun in Drakkenheim steht. Seitdem hat die Amethyst Academy nach und nach die meisten Aufzeichnungen und Erinnerungen an diese Errungenschaft ausgelöscht, um die böse und unheilvolle Geschichte des Turms zu rehabilitieren. Doch dieser Ort birgt weiterhin viele Geheimnisse, die selbst die Amethyst Academy noch nicht kennt.“

Die Worte hingen in der Luft, schwer und unausweichlich. Die Gruppe tauschte Blicke aus. Der Turm, der sie hierhergeführt hatte, barg Geheimnisse, die älter und dunkler waren als sie sich je hätten vorstellen können.

Die Gruppe trat langsam aus dem dunklen Inneren des Turms hinaus, als sie durch die Tür zur linken Seite des Throns durchschritten. Die Tür öffnete sich mit einem tiefen, mechanischen Seufzen, und die Luft, die aus dem Freien hereinsickerte, war dünn und bitterkalt. Ein Schauer lief ihnen über die Haut, als sie auf den Balkon traten, der sich selbst aus purer magischer Energie zusammensetzte. Der Boden, durchsichtig und flimmernd wie Eis auf einem zugefrorenen See, formte sich unter ihren Füßen, schmal und nur fünf Fuß breit, ein schwindelerregender Pfad, der den gesamten Turm in einer schimmernden Schlinge umfasste. Unter ihnen, so tief, dass es fast unmöglich war, den Boden zu erkennen, lag Drakkenheim, ein Meer aus Schatten und Ruinen, das im Nebel verschwamm.

Die Luft, die hier oben auf sie traf, war scharf und roch nach Regen und Ozon. Wind peitschte ihre Kleider, und es fühlte sich an, als stünden sie auf der Kante der Welt, wo nichts anderes existierte als der Abgrund unter ihren Füßen und der endlose Himmel über ihnen.

Mit einem leisen Knirschen öffneten sich Platten in der äußeren Mauer des Turms, und aus dem Inneren des Bauwerks erhob sich ein gewaltiges Teleskop. Es war ein Kunstwerk aus Glas und Bronze, filigrane Zahnräder und Messingarme zischten und drehten sich, als ein metallischer Kran den Mechanismus in Position brachte. Der Teleskopkörper glänzte im fahlen Licht wie ein schlafendes Ungeheuer aus den alten Zeiten, sein riesiges Glasauge richtete sich gen Himmel.

An der Seite des Teleskops war ein Stuhl angebracht, ein altertümliches, aber robustes Konstrukt aus Eisen und poliertem Holz, in das feine Runen und Symbole eingraviert waren, die in sanftem Blau glühten. Eine Vielzahl von Hebeln und Schaltern prangte vor dem Sitz – Mechanismen, die es ermöglichten, das Teleskop in jede erdenkliche Richtung zu schwenken, die Sterne und Weiten des Himmels zu durchforsten und verlorene Geheimnisse aus den Tiefen des Raums zu ergründen.

„Es fühlt sich an, als hätte dieser Ort etwas gesehen, was niemand sonst gesehen hat,“ murmelte Noita, ihre Stimme war leise, beinahe ehrfürchtig.

Thamanea trat näher und setzte sich vorsichtig auf den Stuhl. Die Mechanik des Teleskops reagierte sofort und richtete sich wie von selbst ein, als wäre sie darauf programmiert, sich dem Benutzer anzupassen. Die Runen an den Hebeln leuchteten intensiver, als sie begann, die Schalter zu betätigen. Ein leises Summen erfüllte die Luft, das sich in ein tiefes Brummen verwandelte, als das Teleskop seine Position einnahm und sich mit einem Ruck in den Himmel drehte.

„Das ist keine gewöhnliche Sternwarte,“ flüsterte Thamanea, ihre Finger glitten über die Runen. „Es speichert Aufzeichnungen… vergangene Beobachtungen.“ Ihre Stimme verlor sich, als eine der Runen aufblitzte und das Teleskop sich ein letztes Mal ausrichtete.

Vor ihr zeigte das magische Glas eine Aufnahme der Sterne, so klar und scharf, dass es fast schmerzte, hinzusehen. Die Himmelssphären waren angeordnet wie in einem alten Lehrbuch, jeder Stern und jede Konstellation an seinem Platz. Doch dann, als sie eine der Runen drückte, änderte sich die Aufnahme. Die Sterne begannen sich zu bewegen, sie liefen rückwärts, als hätte jemand die Zeit selbst zurückgedreht. Die Bewegungen wurden schneller, bis die Himmel in einem flimmernden Tanz der Jahrhunderte vor ihren Augen wirbelten.

Schließlich verlangsamte sich das Bild, und die Sterne nahmen wieder ihre Position ein – es war der Himmel über Drakkenheim, aber so, wie er vor fünfzehn Jahren ausgesehen hatte, in jener verhängnisvollen Nacht. Ein Datum blitzte auf, eingraviert in das Licht der Sterne: 16. September, Jahr 1.111.

„Das ist es… die Nacht des Einschlags,“ sagte Thamanea, ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch. Sie drückte eine weitere Rune, und das Bild zoomte heran, fokussierte sich auf einen Punkt im Nichts, einen leeren Fleck am Firmament. „Sie wussten es… Sie haben es kommen sehen.“

Die Aufnahme zeigte den Meteor, der als winziger Punkt am Himmel erschien, glühend und unaufhaltsam. Es war nur ein Flackern in der Weite, ein Vorbote des Untergangs, der sich schnell in die Atmosphäre bohrte. Doch die Runen, die um das Teleskop herum aufleuchteten, zeigten deutlich, dass die Akademie diesen Himmelskörper bereits wenige Stunden vor dem Einschlag erfasst hatte. Sie hatten zugesehen, vielleicht sogar berechnet, wohin er fallen würde.

„Sie haben es gesehen… aber sie haben nichts unternommen,“ bemerkte Funkenflug schockiert. Seine Hände zitterten leicht. „Warum?“ fragte Thamanea, doch die Antwort blieb im Wind hängen, verloren zwischen den Sternen und dem endlosen Nichts des Abgrunds unter ihnen.

Crois stand schweigend neben ihr, seine Augen auf die funkelnden Lichter des Teleskops gerichtet. „Vielleicht… vielleicht wussten sie, dass sie nichts tun konnten,“ antwortete er schließlich, aber in seiner Stimme lag Zweifel, der wie eine kalte Klinge in die Stille schnitt. „Oder vielleicht… wollten sie es nicht.“

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